Sind meine Patienten dumm?
Das habe ich mich seit ich als Physio arbeite tatsächlich immer häufiger gefragt.
Ich verbringe in der Therapie viel Zeit damit, zu erklären, was ich tue, welche Strukturen ich behandle und wie Training funktioniert. Wo andere eine „langweilige“ Lymphdrainage auf dem Rezept sehen, sehe ich die Möglichkeit, einen frisch operierten Patienten vor mir zu haben, dem eine halbe Stunde Wundheilungsphasen- und Lymphsystem-Content gegönnt wird. Und obwohl ich so viel erkläre, versuche mit alten Hirngespinsten wie verklebten Faszien, verschobenen Wirbeln und herausgehüpften Bandscheiben aufzuräumen, merke ich doch jeden Tag wie viel bei den Patienten im Kopf hängen bleibt: Nahezu nichts.
Nachdem ich sämtliche Satzpausen damit verbracht habe, anatomische und physiologische Erklärungen zu verbreiten, kommt der/die Patient*in in die nächste Behandlung wieder mit einer Verklebung, die den Rücken piekst und wieder mit einem Wirbel, der da falsch steht – und ich, ich werde immer genervter und immer ungeduldiger, warum die Klient*innen nicht verstehen wollen, wo ihr Problem liegt, oder aber dass das Problem nicht irgendwo einzeln begraben liegt.
Bis es mir wie Schuppen von den Augen viel: Ich bin ein richtiges Arschloch! Ich habe eine dreijährige Ausbildung gemacht und mache seit über 5 Jahren laufend Fortbildungen, um hinter die Geheimnisse des menschlichen Körpers zu kommen, damit ich jetzt von meinen Patienten verlange, innerhalb von kurzen Erklärungssequenzen, die während eines für sie mental völlig überfordern Trainings stattfinden, alles komplett zu kapieren? Wow, wie dumm ist das denn?!
Natürlich erkläre ich weiterhin, was ich tue und warum ich es tue, denn das ist meiner Meinung nach ein extrem stabiler Grundstein für eine funktionierende Therapie, jedoch fange ich viel, viel kleiner an. Für jene, welche nicht aus dem medizinischen Bereich kommen, ist die Vorstellung was ist eine Sehne, was ist ein Muskel, was ist ein Band, viel nebulöser, als wir in unserem verkopften Physio-Hirn erahnen können.
Außerdem ist es nicht so einfach, als unwissende*r Patient*in – und die meisten wissen ganz genau, dass sie unwissend sind – die Informationen zu filtern. Ja, ich die Physio hat ihnen in der 30-minütigen Therapie gesagt, dass Faszien nicht verkleben und gelöst werden können, aber die Apothekenrundschau, ein anderer Physio, irgendein Osteo, ein Orthopäde und Margerete von nebenan, sagen ihnen das genaue Gegenteil - also wer bin ich, mich darüber aufzuregen, dass die winzige Information, die ich, kleines Individuum, weitergegeben habe, als die richtige und wichtigste abgespeichert wird?
Wie viele Patient*innen beispielsweise gibt es da draußen, die nach wie vor der Meinung sind, Physiotherapie MUSS immer wehtun, sonst bringt sie nichts? Und warum glauben sie das? Na weil es ihnen immer und immer wieder von der Gesellschaft und anderen Fachkräften so gesagt wird. Das ist nicht deren Schuld, und die Patient*innen wollen auch nicht nicht verstehen, aber die Information, die man am häufigsten bekommt, wird vom Gehirn als wahr interpretiert.
Lies bitte den letzten Satz noch einmal.
So sieht es also aus, und ich die Physio steht da und ist genervt und ungeduldig, obwohl es sich bei unserem Körper doch – wie wir schon ergründet haben – um ein brutal komplexes und sehr schwierig zu durchschauendes System handelt.
Als Lösung schlage ich also Folgendes vor: Wir begraben unsere (klitzekleine) Arroganz und erinnern uns wieder daran, dass wir einen sozialen Beruf erlernt haben, weil wir Menschenfreunde sind und erklären unseren Patient*innen mit einer Engelsgeduld wie die Anatomie und Physiologie funktioniert - nicht einmal, nicht zweimal sondern jedes verdammte Mal, wenn sie bei uns sind.
Ich für meinen Teil nehme mir für das neue Jahr vor, mich auch nicht mehr persönlich angegriffen zu fühlen, wenn eine kritische Nachfrage von Patient*innen kommt, oder ein Kollege aus dem Gesundheitssektor über andere anatomische Kenntnisse zu verfügen scheint.
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