Zwischen "Perfectly Imperfect" und Selbstoptimierung
Spätestens nach der Pandemie hat das Wort "Selbstoptimierung" schon einmal jede*r gehört und viele bestimmt auch versucht bei diesem Trend mitzumachen - ich natürlich auch.
Bei Kurzarbeit und Ausgangssperre hatte ich so richtig schön viel Zeit, mich mit meinen Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzten und Bücher, Videos und Podcasts zu konsumieren, die mir zu einem "besseren Ich" verhalfen.
Ich wurde produktiver, ordentlicher, aß gesünder, trieb mehr Sport und fand über das Yoga zum Meditieren und meine innere Mitte. Was soll ich sagen: Das.war.super.
Bis mir der Alltag mit voller Wucht, 40-Stunden-Woche, neuer Beziehung und Vereinsarbeit eine gewaltige Klatsche gab. Meine innere Mitte schwankte und kippte mir die Pommes auf den Teller, den ich in die unaufgeräumte Küche stellte, wo ich das Licht ausmachte, um mein Versagen nicht sehen zu müssen.
Da ich nun aber einmal das Gefühl des geschäftigen Zufriedenseins genossen hatte, konnte ich nicht mehr so ganz zurück in mein vertrautes Chaos. Zuerst versuchte ich es, wie bei jeder Diät, die von Anfang an zum scheitern verurteilt ist: Ganz oder gar nicht.
Ich schaukelte zwischen den produktivsten und "vernünftigsten" Phasen und den ich-liege-nur-auf-der-Couch-und-atme-Phasen hin und her und wusste nicht so recht, wie ich anhalten konnte. Versteh mich nicht falsch, ich war absolut nicht unglücklich in dieser Zeit, aber so wirklich richtig, fühlte es sich auch nicht an. Andererseits war es nicht so einfach bei allem, was der Alltag so mit sich bringt auch noch jeden Tag 1% besser zu werden...wie mache ich das, wenn ich mit nur 5% Restenergie aus der Arbeit komme? Soziale Kontakte streichen? Ein einsamer Nerd werden und sich alleine über das optimale Leben freuen? Aber wofür dann das alles?
Um Dir meinen langatmiges Hin- und Her- zu ersparen, sage ich Dir, worauf ich nun gekommen bin. Ich bin ein großer Fan von Gegensätzen und habe mich damit abgefunden, zwei primäre Persönlichkeiten zu haben:
Die Healthy-Sportphysio-Persönlichkeit kocht sich brav ihr Essen für die Arbeit vor, nimmt genügend Proteine zu sich, um im Gym die gewollten Erfolge zum Muskelaufbau zu erzielen. Sie geht mindestens 3 x wöchentlich zum Sport, macht immer Freitags ihre kleine Yoga-Einheit vor der Arbeit und liest Bücher wie "Die 1%-Methode". Sie beschäftigt sich viel mit Ernährung und achtet darauf, Zink, Omega 3 uvm zu supplementieren. In der Arbeit betreut sie Athleten und hilft Menschen sich von ihren Verletzungen zu erholen oder die nervigen Rückenschmerzen durch Training und Manuelle Therapie in den Griff zu bekommen.
Die nicht-ganz-so-healthy-Seite fährt an sogenannten "Menschenfrei-Tagen" maximal in den McDrive um soziale Kontakte auf ein Minimum zu beschränken, sie raucht gerne und liebt Aperol. Bei einem Festivalbesuch tanzt sie die ganze Nacht und findet definitiv, dass sie dieses Bier noch trinken sollte.
Klingt schwierig? Das fand ich auch. Bis ich mir dachte: Sch***** nein!
Ich bin eine gute Sportphysiotherapeutin, auch wenn ich am Wochenende echt lange feiern war und definitiv zu viel und gerne geraucht habe.
Ich bin eine feierfreudige Person, auch wenn ich 8 h Schlaf liebe und immer noch meine innere Mitte suche. Das eine schließt das andere doch nicht aus.
Ganz im Gegenteil, ich finde die Authentizität, die man dadurch gewährleistet ist doch eine ganz Besondere. Wie kann ich als Physio einem Patienten nahebringen, dass es für die Wundheilung sehr wichtig ist, mit dem rauchen aufzuhören oder es zu reduzieren, wenn ich doch gar nicht weiß, wie gesellig es draußen vor der Türe oder im Raucherbereich ist.
Wie kann ich jemanden überzeugen, gesünder zu Essen, wenn ich doch nicht erahnen kann wie verboten gut sich Majo im Mundwinkel anfühlt? Und wie - um alles in der Welt - soll ich einen Sportler bei seinem Comeback unterstützen, wenn ich nicht weiß, wie es ist, nach hartem Training nicht den gewünschten Erfolg zu sehen?
Vielleicht ist es genau das, was wir akzeptieren sollten; das dieses "Perfectly Imperfect" nicht völlige Kapitulation bedeuten muss, worauf wir uns ausruhen können, sondern dass Angewohnheiten und Lebensbereiche vielmehr hinterfragt werden sollten ob wir diese gerne so haben, oder ob wir sie schon lange in die dunkle Küche sperren können.
Denn der Genuss etwas zu tun, wofür ich mich aktiv und ohne Zwang entscheide ist doch der Schönste. Dann ist es auch ganz egal, ob es der Burger beim goldenen M oder das Gefühl nach dem Workout ist...
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